Peter Gilles, «Dialektausgleich im Lëtzebuergeschen: zur phonetisch-phonologischen Fokussierung einer Nationalsprache»

AutorThomas Gergen
CargoDr. jur., Dr. phil., Maître en droit. Saarbrücken
Páginas443-446

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„La langue nationale des Luxembourgeois est le luxembourgeois.“ In dieser Form wird das Lëtzebuergesche in der Loi sur le régime des langues vom 24. Februar 1984 als National- und Landessprache der Luxemburger qualifiziert, während es auf Grund desselben Gesetzes neben dem Deutschen und Französischen auch als Amtssprache zugelassen ist.1 Allerdings blieb das Lëtzebuergesche trotz dieser feierlichen Proklamation als Nationalsymbol stets hinter den beiden Großsprachen zurück. Seine Funktion lag und liegt vielmehr in der Nähesprache, da es National- und Heimatgefühl ausdrückt, während das Standarddeutsche und das Französische im privaten Bereich kaum Verwendung finden und mithin als Distanzsprachen fungieren.

In diesem Kontext der Triglossie befindet sich die hier vorgelegte Untersuchung, welche im RahmenPage 444des Graduiertenkollegs „Dynamik von Substandardvarietäten“ an der Universität Mannheim entstand. Und mehr noch: Die Arbeit befaßt sich mit der Dialektgeographie des Lëtzebuergeschen, welche der Luxemburgische Sprachatlas (lsa)2 in das die größte Fläche einnehmende Zentrum mit der Hauptstadt sowie die kleineren Dialektregionen Süden, Osten und Norden Luxemburgs einteilt.

Auf Grund der gesellschaftli- chen Modernisierung und der zunehmenden Beweglichkeit der Sprecher kam es in den letzten Jahrzehnten zu Veränderungen der Dialektstruktur und des -gebrauchs, so daß einige Linguisten die Herausbildung einer überregionalen Umgangssprache (Koiné) beobachteten. Peter Gilles´ Ziel ist es indessen, diese Theorie zu widerlegen, wozu er eine empirische Untersuchung aufbietet, die anhand der vier Dialekte des lsa deren variationslinguistische Verflechtung untersucht. Dabei steht im Vordergrund die Interaktion zwischen intern motiviertem Sprachwandel und extern motiviertem Dialektkontakt. Zu diesem Zweck wählt Gilles nur solche Informanten aus den vier Dialektgebieten, die einem hohen Ausmaß an Dialektkontakt ausgesetzt sind, nämlich 20- bis 30jährige mit einer Hochschulausbildung [64]. Gilles muß sich allerdings entgegenhalten lassen, daß durch diese Auswahl („gerade die junge, mobile und weibliche Bevölkerungsschicht als die sprachlich progressivere Gruppe“ [64]) der Dialektausgleich gewissermaßen provoziert wird und die Resultate für alle Sprecher des Lëtzebuergeschen so nicht ohne weiteres zutreffen werden. Mit seinen so gefundenen Ergebnissen ist er schließlich in der Lage, nachzuweisen, daß sich in Luxemburg ein Dialektausgleich in Richtung auf das Zentralluxemburgische abzeichnet, wobei gleichfalls ein hohes Maß an Dialekterhalt beobachtet werden kann.

Der Autor gliedert seine Studie in allgemeine Vorstellung der luxemburgischen Sprachgemeinschaft, kritische Aufarbeitung der Literatur zu Dialektveränderungen, variationslinguistische Konzepte wie Dialektausgleich, Koinéisierung, Konvergenz/Divergenz und Fokussierung/Diffusion und stellt sodann seine Arbeitshypothesen auf. Den Hauptteil der Studie bilden 17 Einzelanalysen von diatopischen Variationsphänomenen, welche die Phonetik/Phonologie des Lëtzebuergeschen weitgehend abdecken. Es sind dies historische Entwicklung, dialektgeographische Dynamik, diaphasische Variation und phonetisch-phonologische Implikationen.

Für die These des Dialektaus-Page 445gleichs spricht, daß die Informanten, insbesondere die aus dem Süden des Landes, sich am deutlichsten auf das Zentrum zubewegen, während diejenigen aus dem Norden und dem Osten am stärksten ihren Dialekt wahren können. Deutlich wird, daß die Zielvarietät der Veränderungen nicht eine neue Varietät ist (was ja für die Koinéisierung spräche), sondern das Zentralluxemburgische. Außerdem arbeitet Gilles heraus, daß klein- räumige Merkmale wie etwa die stadtluxemburgische Variante [ons] für ais (= uns) oder die g-Spirantisierung des Nordöslings zusehends zurückgedrängt werden.3 Die Veränderungen auf der prälexikalischen Ebene führen darüber hinaus zu einer Zu- bzw. Abnahme der Anzahl der Sprachlaute, welche phonologische Oppositionen eingehen können [258]. Auf der lexikalischen Ebene sind indes die meisten Veränderungen zu konstatieren. Die phonologische Regel, nach der zugrunde liegendes ei bzw. ou vor einer bestimmten Konsonantengruppe zu i bzw. u gekürzt wird, dringt sowohl in den Osten als auch in den Norden ein. Da diese Regel vorher dort nicht vorhanden war, werden diese Varietäten nun komplexer, und es werden Laute in gewissen historischen Wortklassen durch neue ersetzt.

Zwar sieht Gilles Mischungen zwischen den einzelnen Varietäten bestätigt, so daß man von einer Koinéisierung sprechen könnte, da hier eine Gemeinsprache oder Lingua Franca bzw. ein stabiles Mischungsprodukt im Dialektkontakt entstanden sein könnte [28]. Doch konnte er diese Stabilität in seinem ausgewerteten Material gerade nicht feststellen. Die Zielvarietät, also das Zentralluxemburgische, ist aber nicht durch Reduktion und Simplifikation gekennzeichnet, sondern weist ein erhebliches Maß an Idiosynkrasien und Lexikalisierungen auf, was für eine Komplexität und keinen Abbau spricht. Außerdem breiten sich einige dieser komplexen Merkmale in die umliegenden Dialekte aus. Bei diesem Kontakt der Dialekte setzt sich nicht immer die einfachste Varietät durch. Ein weiteres Argument gegen die Koinéisierung stellt die Beobachtung dar, daß es nur selten zur Entstehung von Zwischenformen oder vollkommen neuer Varianten kommt.

Letztlich bleibt noch zu bemerken, daß Phonetik und Phonologie des Standarddeutschen bzw. des Französischen keinen Einfluß auf das Lëtzebuergesche ausüben. Gerade im Hinblick auf die Etablie-Page 446rung und auf die linguistische Konturierung einer deutsch-luxemburgischen Sprachgrenze eröffnen sich für die Zukunft noch interessante Forschungsperspektiven, da das Moselfränkische auf deutscher Seite nicht dieselben Tendenzen aufweist.4

Obwohl fast alle Varianten, die im lsa erwähnt worden waren, noch heute vorkommen, zeigt sich, daß in Luxemburg alte dialektale Strukturen zugunsten des Zentralluxemburgischen abgebaut werden. Dies führt sicherlich zu dem Dilemma zwischen Dialekterhalt einerseits und Dialektausgleich andererseits. Gilles führt diesen Widerspruch zu Recht auf zwei Tendenzen zurück. Zum einen bedingen die seit dem 19. Jahrhundert ablaufenden gesellschaftlichen Modernisierungen und der natürliche Sprachwandel die Nivellierung der Dialektgeographie. Zum anderen steuert dieser Entwicklung die hohe Orts- und Regionenloyalität entgegen. Dieser Widerspruch kann nur dadurch aufgelöst werden, wenn er gesehen wird in der spezial- und nationalsymbolischen Bedeutung des Lëtzebuergeschen in seiner Ganzheit. Obgleich gelegentlich über den Dialekt der Sprecher des Nordens und Ostens gespottet wird, eint die Luxemburger das Wissen, daß es sich bei diesen Dialekten wie bei dem Zentralluxemburgischen um die National- sprache Lëtzebuergesch handelt, welche hilft, sich gegenüber den beiden Großsprachen Französisch und Deutsch abzugrenzen und ei- gene lëtzebuergesche Identität zu spüren.

Und damit wären wir wieder am Anfang der Debatte angelangt, nämlich beim ergänzungsbedürftigen Sprachengesetz von 1984.5

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[1] . Guy Berg, „Mir wëlle bleiwen, wat mir sin.“ Soziolinguistische und sprachtypologische Betrachtungen zur luxemburgischen Mehrsprachigkeit, Tübingen 1993 (Reihe Germanistische Linguistik 140); Johannes Kramer, „Gewollte Dreisprachigkeit - Französisch, Deutsch und Lëtzebuergesch im Großherzogtum Luxemburg“, in: Robert Hinderling (Hg.), Europäische Sprachminderheiten im Vergleich. Deutsch und andere Sprachen, Stuttgart 1986, 229-250; vgl. zur Reichweite von Amts- und Landessprache: Thomas Gergen, Sprachengesetzgebung in Katalonien. Die Debatte um die Llei de Política Lingüística vom 7. Januar 1998, Tübingen 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 302), 9-10.

[2] . Herausgegeben von Robert Bruch und Jan Goossens, Marburg 1963.

[3] . Größerräumig verbreitete Merkmale gewinnen auf Kosten von kleinräumigen an Boden, vgl. diese These bei Kjeld Kristensen und Mats Thelander, „On Dialect Levelling in Denmark and Sweden“, Folia Linguistica XVIII (1984), 223-246.

[4] . Jean-Paul Hoffmann, Standard und Dialekt in der saarländisch-lothringisch-luxemburgischen Dreiländerecke, Luxemburg 1985; sowie José Cajot, Neue Sprachschranken im ´Land ohne Grenzen´? Zum Einfluß politischer Grenzen auf die germanischen Mundarten in der belgisch-niederländisch-deutsch-luxemburgischen Euregio, 2 Bände, Köln/Wien 1989 (Rheinisches Archiv, 121).

[5] . Als Anregung möge dienen unser Aufsatz: „La genèse de la Loi catalane de Politique Linguistique (lpl) du 7 janvier 1998 - modèle pour la législation linguistique dans la Communauté Européenne“, Revista de Llengua i Dret, 34 (2000), 103-116.

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