Das Konzept der 'Daseinsvorsorge' bei Ernst Forsthoff als Legitimation des autoritären Staates

AutorPeter Techet
CargoPostDoc
Páginas324-362
Historia Constitucional
ISSN 1576-4729, n. 23, 2022. http://www.historiaconstitucional.com, págs. 324-362
DAS KONZEPT DER „DASEINSVORSORGE“ BEI ERNST
FORSTHOFF ALS LEGITIMATION DES AUTORITÄREN
STAATES
THE CONCEPT OF “DASEINSVORSORGE” BY
ERNST FORSTHOFF AS LEGITIMATION OF THE
AUTHORITARIAN STATE
Peter Techet
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Universität Zürich
SUMARIO: EINFÜHRUNG; I. DER BEGRIFF DER „DASEINSVORSORGE“: I.
1. Idee der „Daseinsvorsorge“, I. 2. „Daseinsvorsorge“ und Lebensraum; II.
„DASEINVORSORGE“ ALS NEUE VERWALTUNGSLEHRE: II. 1. Neue Realität,
neue Verwaltungsaufgaben, II. 2. Eingriffs- und Leistungsverwaltung, II.
3. „Daseinsvorsorge“ als NS-Begriff?; III. „DASEINSVORSORGE“ ALS EINE
AUTORITÄR-LIBERALE IDEE?: III. 1. Totalität der Daseinsverantwortung: Totale
Teilhabe und totale Vereinnahmung der Einzelnen, III. 2. Liberale und autoritäre
Angst: Die Vergesellschaftung des Staates, III. 3. Autoritäres Ziel: Qualitative Totalität
des Staates, III. 4. Liberales Ziel: Entpolitisierung der Gesellschaft im Interesse
der freien Wirtschaft; IV. „DASEINSVORSORGE“ IN DER NACHKRIEGSZEIT: IV.
1. BRD: Staat ohne Autorität?, IV. 2. Gegen den Sozialstaat, IV. 3. Gegen den
Richterstaat, IV. 4. „Daseinsvorsorge“ und Ausnahmezustand: Soziale Stabilität
oder neue, überstaatliche Herausforderungen?
Resumen: Der deutsche Verwaltungsjurist Ernst Forsthoff entwickelte
seit den 1930er Jahren ein neues Konzept des Verwaltungsrechts
(„Daseinsvorsorge“). Dabei ging es für ihn darum, einerseits die
Aufgaben der Verwaltung – aufgrund der veränderten Verhältnisse in
einer Industriegesellschaft – neu festzulegen, andererseits dem Staat
eine neue Legitimationsgrundlage zu geben. Während Forsthoff sein neues
Konzept des Verwaltungsrechts als soziale Funktion ausarbeitete, blieb
er im Verfassungsrecht ein Gegner des Sozialstaats, obwohl diese
Position seinem Verwaltungsrecht widersprach. Im folgenden Beitrag
analysiere ich die Entwicklungsstufen seines Konzepts (auch mit
Hinblick auf den Nationalsozialismus und die Sozialstaatsdebatten) und
zeige die Widersprüche zu seinem Verfassungsrecht auf.
Abstract: The German administrative lawyer, Ernst Forsthoff developed since
the 1930s a new concept of administration law (“Daseinsvorsorge”). On the one
hand, it was about determining the tasks of administration – due to the changed
circumstances in an industrial society –, and, on the other hand, give the state a
Peter Techet
325
new basis of legitimation. However, while Forsthoff worked out his new concepts of
administrative law as social function, he remained an opponent of the welfare state
in constitutional law, although this position contradicted his administrative law.
In the following article I analyse the stages of development of his concept (also with
reference to National Socialism and the debates on the Welfare State), and I show
the contradictions to his constitutional law.
Palabras clave: Deutschland; Wohlfahrtstaat; Ernst Forsthoff; Carl Schmitt;
Verwaltungsrecht; Verfassungsrecht; Rechtsgeschichte; Staatslegitimität;
Nationalsozialismus; Wolfgang Abendroth
Key Words: Germany; Welfare state; Ernst Forsthoff; Carl Schmitt; Administrative
law; Constitutional Law; Legal History; Legitimation of the State; National Socialism;
Wolfgang Abendroth
EINFÜHRUNG
Der deutsche Verwaltungsjurist Ernst Forsthoff (1902-1974) entwickelte seit
den 1930er Jahren ein neues Konzept der Verwaltung („Daseinsvorsorge).1 Es
sollte einerseits die Verwaltung – aufgrund der veränderten Umständen in einer
industriellen Gesellschaft – als Leistungsaufgabe bestimmen, andererseits dem
Staat eine neue Legitimationsgrundlage verleihen. Forsthoff wollte mit seinem
Konzept auf die Veränderungen des modernen, industriellen Zeitalters reagieren,
welche den Menschen zwar neue Möglichkeiten, „Freiheiten“ verschafften, aber die
Unsicherheiten und die Gefahren vergrößerten.
Forsthoff fasste die neuen Aufgaben des Staates im Begriff der „Daseinsvorsorge”
zusammen. Die „Daseinsvorsorge“ solle den Menschen Schutz vor den Risiken
einer kapitalistischen, technisch entwickelten, modernen Gesellschaft bieten, in
der die Menschen zwar neue Freiheiten und Möglichkeiten erlangen, aber die damit
einhergehenden Risiken alleine nicht mehr bewältigen können. Die „Daseinsvorsorge“
befriedigt und sichert die Grundbedürfnisse der Menschen, die ohne staatliche
Leistungen nicht mehr zu realisieren seien. Weil sich die Autorität des Staates
infolgedessen verfestigt und verstärkt, bedeutet das Konzept der „Daseinsvorsorge“
zugleich die Neuformulierung und Neubelebung der Staatslegitimität. Der Staat
legitimiert sich nicht bloß durch die verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten
bzw. die polizeilich gewährte Ordnungssicherung, sondern auch durch die
verwaltungsrechtliche Vorsorge, d.h. eine neue staatliche Daueraufgabe, welche
das Staat-Gesellschaft-Verhältnis grundlegend verändert.
Die „Daseinsvorsorge“ könnte zwar auch die Sozialstaatlichkeit bedeuten,
war sie aber bei Forsthoff nicht in diesem Sinne herausgearbeitet. Deswegen ist
es wichtig zu betonen, dass Forsthoff nicht eine bloße, staatlich erfolgte, soziale
1 Zum Lebenslauf und Lebenswerk Forsthoffs siehe Florian Meinel, Der Jurist der
Industriegesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Akademie, Berlin, 2011.
DAS KONZEPT DER „DASEINSVORSORGE“ BEI ERNST FORSTHOFF ALS...
326
Absicherung anstrebte, sondern er wollte die Autorität des Staates auch in einer
Risikogesellschaft (im Sinne des übergesellschaftlichen Staates) bewahren bzw. (im
Sinne einer erhöhten Staatsabhängigkeit der Gesellschaft) neu begründen. Um eine
pluralistische Sozialstaatlichkeit zu verhindern, entwickelte also Forsthoff sein
verwaltungsrechtliches Konzept demnach als Ergänzung/Untermauerung eines
„qualitativ totalen“ Staates.2 Was Carl Schmitt im Verfassungsrecht formuliert hatte,
dachte Forsthoff auf dem Gebiet der Verwaltungslehre weiter: Während Schmitt
den Staat nach außen hin, d.h. als maßgebende Entscheidungsmacht über Freund
und Feind bestimmte (aber den inneren Inhalt des Staatslebens beliebig, d.h.
dezisionistisch-okkasionell offen hielt), interessierte sich Forsthoff für das Innerleben
des Staates,3 d.h. er füllte die innerstaatliche „Leere“ der Schmittschen Lehre mit der
Idee der „Daseinsvorsorge“ als Ziel und Inhalt eines autoritären Staates aus.
Im folgenden Aufsatz analysiere ich die Entwicklungsstufen des
„Daseinsvorsorge“-Konzeptes. Der Begriff der „Daseinsvorsorge“ wird im Aufsatz
als Reaktion auf die veränderten gesellschaftlichen Umstände verstanden (I.),
welche – auch in Bezug auf den Nationalsozialismus – das Wesen der Verwaltung
neu bestimmen (II.) bzw. einen autoritären Staat ermöglichen sollte. (III.) Dass
dem Konzept ein autoritäres Staatsverständnis zugrunde lag, zeigte sich besonders
in der Nachkriegszeit, als Forsthoff den Sozialstaat (als mögliche Konsequenz
einer daseinsvorsorgenden Verwaltung) ablehnte. (IV.) Forsthoff dachte die
„Daseinsvorsorge“ also nicht in einen pluralistischen Wohlfahrtsstaat weiter,
sein Konzept stellt vielmehr einen konservativen Versuch dar, die vermeintlich
verlorengegangene Autorität des Staates in die Verwaltung als staatliches
Hoheitsgebiet zu übertragen.
I. DER BEGRIFF DER „DASEINSVORSORGE“
Forsthoff entwickelte den Begriff der „Daseinsvorsorge“ in einem Aufsatz
im Jahre 1935. Er wollte damit – im Kontext einer konservativen Kulturkritik
– auf Veränderungen der modernen Welt reagieren (I. 1.), d.h. das Problem
rechtswissenschaftlich erfassen, dass die Menschen den ihnen zugänglichen, zur
Verfügung stehenden Lebensraum mit dem von ihnen beherrschten Lebensraum
nicht mehr absichern und in Anspruch nehmen konnten. (II. 2.)
I. 1. Idee der „Daseinsvorsorge“
Dank der seit dem 19. Jahrhundert einsetzenden Veränderungen – d. h.
der Urbanisierung, der Massengesellschaftlichkeit, der technischen Neuheiten –
erlebte Europa einen gesellschaftlichen Prozess, der die menschlichen Ansprüche
immer höher trieb, während die Ressourcen weiterhin begrenzt blieben. Als Ernst
2 Zum Konzept des „qualitativ totalen Staates”, der nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke
heraus total sei, siehe Carl Schmitt, „Starker Staat und gesunde Wirtschaft (1932)”, in ders., Staat,
Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969. Hg. von Günther Maschke, Duncker &
Humblot, Berlin, 1995, pp. 74, 77, 81.
3 Meinel, Der Jurist der Industriegesellschaft, op. cit., p. 175.

Para continuar leyendo

Solicita tu prueba

VLEX utiliza cookies de inicio de sesión para aportarte una mejor experiencia de navegación. Si haces click en 'Aceptar' o continúas navegando por esta web consideramos que aceptas nuestra política de cookies. ACEPTAR