Soziale Gerechtigkeit' und 'Menschenwürde' in der weimarer Reichsverfassung

AutorHasso Hofmann
CargoHumboldt-Universität zu Berlin
Páginas307-323
„SOZIALE GERECHTIGKEIT“ UND „MENSCHENWÜRDE“
IN DER WEIMARER REICHSVERFASSUNG
"SOCIAL JUSTICE" AND "HUMAN DIGNITY" IN THE
WEIMAR CONSTITUTION
Hasso Hofmann
Humboldt-Universität zu Berlin
ZUSSAMENFASSUNG: I. RÜCKBLICK. II. HERKUNFT, FUNKTION UND STATUS
DES ART. 151 ABS. 1 WRV. III. DAS ZIEL: EIN MENSCHENWÜRDIGES DASEIN
FÜR ALLE. IV. DAS MITTEL: SOZIALE GERECHTIGKEIT. V. VOM SOZIALSTAAT
UNTER VORBEHALT DER PERSÖNLICHEN FREIHEIT ZUM GRUNDSATZ
PERSÖNLICHER FREIHEIT UNTER „SOZIALVORBEHALT“. VI.
GEGENSTRÖMUNGEN. VII. RESÜMEE.
Auszug: Die Weimarer Reichsverfassung unterstellte die Ordnung des
Wirtschaftslebens den Grundsätzen der Gerechtigkeit und eines
menschenwürdigen Daseins für alle. Damit hob sie die Idee des Sozialstaats zum
ersten Mal auf die Ebene des Verfassungsrechts. Zugleich veränderte sie damit
das traditionelle Verständnis der Grundrechte. Der Beitrag behandelt die Gründe
und die Tragweite dieses Vorgangs und beschäftigt sich mit der Frage, warum im
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland diese Entwicklung
abgebrochen ist.
Abstract: The Weimar Reich Constitution placed the order of economic life under
the principles of justice and a humane existence for all. Thus it raised the idea of
the welfare state for the first time to the level of constitutional law. At the same
time, it changed the traditional understanding of fundamental rights. The article
deals with the reasons for and consequences of this process and deals with the
question of why this development has been broken off in the Basic Law for the
Federal Republic of Germany.
Schlüsselwörter: Menschenwürde - Soziale Gerechtigkeit – Sozialstaat – Sozialer
Rechtsstaat – Soziale Grundrechte – Wirtschaftsverfassungsrecht
Keywords: Human dignity - Social justice - Social state - Social constitutional
state - Fundamental social rights - Economic constitutional law
Revista de Historia Constitucional
ISSN 1576-4729, n.20, 2019. http://www.historiaconstitucional.com, págs. 307-323
I. RÜCKBLICK
Kaum eine sozialpolitische Auseinandersetzung, in der heute nicht soziale
Gerechtigkeit eingefordert würde, kein Wahlkampf ohne diese Parole. Weiter noch
ist die Menschenwürde zum inflationär gebrauchten Schlagwort, zur „Floskel für
Sonntagsredner“1 heruntergekommen. Kein Konflikt scheint zu banal, dass einer
nicht auf den Gedanken käme, sich auf die Menschenwürde zu berufen. Und was
soll gegen allerlei Geschmacklosigkeiten der Unterhaltungsindustrie helfen?
Natürlich das Gebot des Menschenwürdeschutzes als „juristische
Allzweckwaffe“.2 Die Alltagsgegenwart jener Schlagworte beruht auf der großen
Karriere, die sie als verfassungsrechtliche Begriffe gemacht haben.3 Am Anfang
dieser Erfolgsgeschichte steht der Protest gegen die leidvoll erfahrene
massenhafte Verletzung humanitärer Mindeststandards unter dem Nazi-Regime.
Vor diesem Hintergrund war das Bekenntnis zur Menschenwürde als Grundlage
für die politische, rechtliche, wirtschaftliche und moralische Erneuerung des
Gemeinwesens auf deutschem Boden nicht weiter begründungsbedürftig. Einen
fragwürdigen Höhepunkt des Aufstiegs bildet die hypertrophe Auszeichnung der
Menschenwürde als „Höchstwert des Weltrechts“ durch einen Staatsrechtler und
Verfassungsrichter unserer Tage.4 Auf dem Feld des Sozialrechts beobachtete
dessen führender Vertreter Hans Zacher schon 1980 eine wachsende
Durchdringung der gesamten Sozialpolitik mit verfassungsrechtlichen
Argumenten.5 Das war nicht selbstverständlich, da die - inzwischen freilich
längst als Verfassungsprinzip anerkannte - Sozialstaatlichkeit6 im Grundgesetz ja
nur in Gestalt des Adjektivs „sozial“ beim Bundesstaat (Art. 20) und beim
Rechtsstaat (Art. 28) erscheint. Zudem hatte ein so angesehener
Staatsrechtslehrer wie Ernst Forsthoff diesem Adjektiv 1953 jede
verfassungsrechtliche Bedeutung abgesprochen, die Verbindung mit dem
Bundesstaat darüber hinaus schlicht „sinnlos“ genannt.7 Diese Koppelung ist in
der Tat wenig einleuchtend. Die andere Fassung – „sozialer Rechtsstaat“ – nimmt
1 Eric Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, in: Jahrb. f. Recht und Ethik 7 (1999), S.
137 (138).
2 Dazu Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I
Rn. 48 ff.
3 Noch 1955 verzeichnen weder der „Große Brockhaus“ noch der „Große Herder“ das Stichwort
Menschenwürde. 1979 zitiert der „Große Brockhaus Art. 1 GG, verweist aber zugleich auf die
größere praktische Bedeutung der speziellen Grundrechte. 1996 bringt er eine verhältnismäßig
ausführliche verfassungsrechtliche Darlegung der eigenständigen Bedeutung des Art. 1 GG.
4 Udo Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, in: JZ 2004, S. 1 (5). Eingehende Behandlung
der juristischen Bedeutung des Begriffs jetzt bei Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen
Verfassungsstaates, 2014, S. 71 ff.
5 Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik
Deutschland, 1980, S. 17 f.; dazu Friedhelm Hase, Sozialrecht, in: Thomas Vesting u. Stefan
Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 121 (122 f.).
6 Dazu statt aller Fabian Wittreck, in: Dreier (Fn. 2), Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Sozialstaat)
Rn. 24. Zur Entwicklung Hermann Butzer, Die Sozialstaatsentwicklung unter dem Grundgesetz,
2006; John Philipp Thurn, Welcher Sozialstaat?, 2013, 67 ff., 83 ff.
7 Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: VVDStRL 12 (1954), S. 8 (19
ff., 36); dazu Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, 2012, S. 359 ff.
Hasso Hofmann
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