100 Jahre Weimarer Verfassung

AutorChristoph Gusy
CargoUniversität Bielefeld
Páginas203-231
100 JAHRE WEIMARER VERFASSUNG
100 YEARS WEIMAR CONSTITUTION
Christoph Gusy
Universität Bielefeld
ZUSAMMENFASSUNG. I. DIE DYNAMISCHE VERFASSUNG: WAS WIR ÜBER DIE
WRV WISSEN (KÖNNEN). II. EIN BLICK IN DIE WRV EINE ZUKUNFTSOFFENE
UND ZUKUNFTWEISENDE VERFASSUNG. III. DIE VERDRÄNGTE REVOLUTION
- GEGEN DIE MONARCHIE, NICHT GEGEN DIE REPUBLIK. IV. DIE REPUBLIK:
KEIN ERSATZKAISER, SONDERN VOLKSGEWÄHLTER REICHSPRÄSIDENT. V.
PARLAMENTARISCHE REGIERUNG SCHWACH ODER GESCHWÄCHT? VI.
PLEBISZITÄRE REPUBLIK? VII. DAS FREIESTE VOLK DER ERDE“ DIE
GRUNDRECHTE. VIII. NEUTRALITÄT BIS ZUM SELBSTMORD?DAS NATIO-
NALSOZIALISTISCHE REGIME ALS LETZTE REGIERUNG DER REPUBLIK? IX.
RÜCKBLICK: VON WEIMAR ZU „WEIMAR“ UND WIEDER ZURÜCK. X. DIE WRV
ALS MEILENSTEIN DER DEUTSCHEN UND EUROPÄISCHEN VERFASSUNGS-
GESCHICHTE.
Auszug: Vor 100 Jahren, am 14.8.1919, trat die Weimarer Verfassung in
Kraft. Ein Blick in ihren Text mag überraschen. Allgemeines und gleiches
Wahlrecht; Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung und
Partizipationsmöglichkeiten der Bürger; Anläufe zu einer Kontrolle der
Staatsgewalt durch Gerichte einschließlich eines Verfassungsgerichts;
Sozialpartnerschaft durch Mitbestimmung; wirtschaftliche und soziale
Garantien bis hin zum Mindestlohn; Recht auf Bildung und Erziehung zu
„staatsbürgerlicher Gesinnung“ und Völkerversöhnung; Gleichberechtigung
von Frauen und Männern, Chancengleichheit für einzelne benachteiligte
Gruppen und im Bildungswesen, vielleicht sogar Ansätze von
Nachhaltigkeit. Alles dies war in der Weimarer Verfassung bereits
angelegt
Abstract. 100 years ago, on August 14th 1919, the Weimar Constitution came
into force. A look into its text may come as a surprise. A general and equal right
to vote; Participation of the citizens in the legislation and other participation
opportunities of the people; Attempts to control the State power by courts
including a constitutional court; Social partnership through participation;
economic and social Guarantees including rules on the minimum wage; Rights to
education towards a "Civic attitude" and an international reconciliation; Equal
rights of women and men, equal opportunities for individual disadvantaged
Groups and in terms of education, maybe even approaches of Sustainability. All
this was already included in the Weimar Constitution.
Schlüsselwörter: Weimar Constitution, National Assembly, Democracy, Republic,
Fundamental Rights, End oft he Republik
Revista de Historia Constitucional
ISSN 1576-4729, n.20, 2019. http://www.historiaconstitucional.com, págs. 203-231
!
Keywords: Democracy—Republic—President of the Republic- Parliamentary
Government-Defence oft the Constitution
I. DIE DYNAMISCHE VERFASSUNG: WAS WIR ÜB ER DIE WRV WISSEN (KÖN-
NEN)
Der Blick zurück auf die Republik und ihre Verfassung ist überlagert von
Bildern, Zuschreibungen und Bewertungen, die teils von Zeitgenossen, teils von
späteren (Rechts-)Historikern auf uns gekommen sind. Diese hatten ihre Bedeu-
tung zu ihrer Zeit, als sie entworfen oder tradiert worden sind. Doch welche Be-
deutung können sie für uns und unsere Anschauung der ersten republikani-
schen Verfassung für Deutschland erlangen? Die in der Gegenwart angemahnte
hinreichende Komplexität von Fragestellungen und Antworten scheint die Ein-
fachheit und Einlinigkeit jener Bilder zu überfordern. Unsere Suche führt uns zu
vier Quellen:
(1) Den Verfassungsarbeiten der Nationalversammlung und in ihrem Verfas-
sungsausschuss: Sie sind jüngst neu recherchiert und veröffentlicht worden.1
Was später das geltende Recht werden sollte, ist im Weimarer Verfassungslabora-
torium2 entworfen, abgewogen und in Auseinandersetzung mit konkurrierenden
Ideen beschlossen worden. Wir kennen jetzt die Motive und Beratungen genauer
und können besser mit der tradierten Formel von der „improvisierten Demokra-
tie“ umgehen.3 Gewiss: Die Situation der Verfassunggebung war plötzlich und
ungeplant eingetreten. Die Verfassungsberatungen waren es nicht. Sie waren
wissenschaftlich und politisch vorbereitet, fanden interessierte und engagierte
Politiker im Verfassungsausschuss. Dessen Debatten vereinigten die besten Tra-
ditionen deutscher Verfassungsstaatlichkeit,4 nicht nur den Rückgriff auf die
Paulskirche 1849,5 und in Einzelfällen ausländische Vorbilder.6
(2) Dem Verfassungstext: Er kondensierte die Beratungen und Ergebnisse
des Verfassungslaboratoriums in der Sprache der Zeit. Sie sollten das Verfas-
sungsrecht auf neue Grundlagen stellen, waren zugleich aber auch vielfach offen
und ausgestaltungsfähig. Die demokratische Republik war mit dem Akt der Ver-
fassunggebung nicht einfach fertig. Zahlreiche Staatszielbestimmungen, Gesetz-
gebungsaufträge und Gesetzesvorbehalte indizierten: Die WRV suchte einen ei-
genständigen Weg zwischen Stabilisierung des rechtlichen Status quo und Offen-
haltung des politischen Prozesses für die Aufgaben der Zukunft. Die Brücke zwi-
schen beiden lag in einem starken legitimationsorientierten Grundzug: Was das
Volk durch die Weimarer Konstituante begründet hatte, sollte durch seine Vertre-
ter in den Parlamenten auf- und ausgebaut werden. Dazu sollten nicht bloß
rechtliche Besitzstände dem Zugriff der Staatsgewalt durch Abwehrrechte entzo-
gen werden. Vielmehr zeichnete der Text Grundelemente einer Verfassungsstaat-
1 Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 2018.
2 Ausdruck nach Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004, S. 25 ff.
3 Thomas Eschenburg, Die improvisierte Demokratie, 1963 (nach Hugo Preuß 1918).
4 Ausdruck nach Schefold, in: Heinrich (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1992, S.
429, 452 (zu Hugo Preuß).
5 Dazu unübertroffen Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. A., 1998.
6 Zum Kontext Wiederin, in: Dreier/Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie, 2018, S. 45.
Christoph Gusy
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